Was ich meine, wenn ich von der Vernunft spreche oder von Rationalismus, ist weiter nichts als die Überzeugung, dass wir durch die Kritik unserer Fehler und Irrtümer lernen können und insbesondere durch die Kritik anderer und schließlich auch durch Selbstkritik. Ein Rationalist ist einfach ein Mensch, dem mehr daran gelegen ist zu lernen, als recht zu behalten; der bereit ist, von anderen zu lernen, nicht etwa dadurch, dass er die fremde Meinung einfach annimmt, sondern dadurch, dass er gerne seine Ideen kritisieren lässt und gerne die Ideen anderer kritisiert. Der Nachdruck liegt hier auf der Idee der Kritik oder genauer gesagt der kritischen Diskussion.
aus Karl R. Popper, aus „Alles Leben ist Problemlösen“, München 2005 S. 160
Wer sich mit Agilität beschäftigt, der wird zwangsläufig mit Begriffen wie Empirie und Wertgetriebenheit konfrontiert. Aber was verbirgt sich hinter diesen Begriffen? Für natur- und sozialwissenschaftliche geprägte Menschen ist der wissenschaftstheoretische Zugang zum Begriff Empirie kein Buch mit 7 Siegeln. In ihrer Ausbildung spielt die wissenschaftstheoretische Empirie eine große Rolle und Student hat so mancher die Vorlesungen zur Wissenschaftstheorie sicherlich verflucht.
Was aber ist diese Empirie? Und was hat Wissenschaftstheorie mit Agilität zu tun? Empirie ist laut Wikipedia „…ist eine methodisch-systematische Sammlung von Daten. Auch die Erkenntnisse aus empirischen Daten werden manchmal kurz Empirie genannt. In der Wissenschaftsphilosophie wird der Empirie als Erfahrung, die zu einer Hypothese führt (oder diese auch widerlegt), die Evidenz gegenübergestellt, also die unmittelbare Einsichtigkeit einer wissenschaftlichen Behauptung.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Empirie)
Agile Ansatz arbeiten nach genau diesen wissenschaftstheoretischen Modell. Ich stelle eine Hypothese auf, die ich durch Beobachtung von nachvollziehbaren und überprüfbaren Fakten, gewonnenen aus Beobachtung, überprüfe. Die Hypothesen sind unsere Annahmen, darüber wie wir ein Thema vorantreiben und die von uns erhofften Ergebnisse. Treten diese Ergebnisse nicht ein, die wir erwarten, dann ist unsere Hypothese falsch und wir müssen unsere Arbeitsannahmen verändern und überarbeiten. Sprich: Wir tasten uns schrittweise auf Basis unserer Beobachtungen an die best mögliche Lösung heran, in dem wir Stück für Stück Faktoren ausschließen und uns den Einflussgrößen nähern, die im Hinblick auf unser Ziel den höchsten Nutzen versprechen.
Wir tun dies nicht aus einem Bauchgefühl heraus, sondern basierend auf Beobachtungen, die wir validieren. Das macht die agile Denk- und Herangehensweise zu einer empirischen Arbeitsweise. Wir handeln nicht nach normativen, nach erstrebenswerten Wunschmaßstäben, sondern nach deskriptiven also beschreibenden Faktoren, die wir messbar und überprüfbar machen können. Unsere Hypothesen kommen in den User Story zum Ausdruck, die wir als „Leitstern“ in unserer Iterationen verwenden. Sind unsere Annahmen stimmig? Haben wir die User Story erfüllt und führt diese zu einem messbaren Fortschritt? Wenn nein, warum? Welche unserer Arbeitshypothese ist falsch und was müssen wir tun, um besser Ergebnisse zu erzielen?
Wie passt hier nun „wertgetrieben“ ins Konzept? Werte sind nicht deskriptiv im Sinnen der Beschreibung eines empirischen Befundes. Wäre damit die agile Denkweise nicht im Widerspruch zur Empirie, wenn sie am Ende doch wieder normativ, also durch Wunschvorstellungen eines guten Zustandes getrieben werden? Es ist wie bei den wissenschaftstheoretischen Grundsätzen. Die agilen Werte und die dahinterliegende Haltung ist kein Wunschdenken, sondern – Achtung, sie sind ebenfalls das Ergebnis empirischer Beobachtungen. Von diesen Beobachtungen leiten sich die agilen Werte ab. Sie sind das Ergebnis von Beobachtungen, nach denen Commitment, Einfachheit (Simplicity), Feedback, Fokus (Focus), Kommunikation (Communication), Mut (Courage), Offenheit (Openness) und Respekt (Respect) Voraussetzungen sind, damit wir überhaupt kritisch und empirisch vorgehen können.
Erst wenn wir uns kritisch unseren Überlegungen stellen, offen sind für, die Argumente anderer können wir unserer Hypothesen überprüfen und weiterentwickeln. Damit diese funktioniert, brauchen wir aber auch de gegenseitigen Respekt gegenüber, einfache nachvollziehbare Thesen und den Fokus den zu beobachtenden Gegenstand. Mit anderen Worten, zwischen der wissenschaftstheoretischen Erkenntnistheorie und der agilen Arbeits- und Denkweise gibt es viele Parallelen. Nach meinem Empfinden bringt es das oben erwähnte Zitat von Karl Freimond Popper am besten zum Ausdruck. Das Zitat gehört daher zu meinen Favoriten 😉