Ralf Kruse hat auf Linkedin eine Diskussion angestoßen, die mich regelrecht angetriggert hat. Im Kern geht es um die “agile Reife” eines Teams. Im ersten Moment habe ich das noch recht unkritisch gesehen, bis mir klar wurde, dass es gar nicht so sehr um die Frage geht, wie agil ein (z.B.) Scrum Team ist oder nicht, sondern viel mehr um die Frage, mit welcher Begründung sich jemand mit der Rolle Scrum Master/Agile Coach hinstellt und ein Team für “unreif” erklärt und wie das Ganze begründet wird bzw. welche Konsequenzen sich daraus für das Handeln ergeben. Mit anderen Worten, ich als Scrum Master (der Teil des Teams ist) nehme wahr, dass dieses Team in meinen Augen noch nicht reif genug für ein agiles Vorgehen ist. Nach längerem Nachdenken erscheint mir dies in mehrfacher Hinsicht problematisch.
Wer die Rolle des Scrum Masters oder Agile Coaches einnimmt, hat die Aufgabe, ein Team (eine Organisationseinheit) dabei zu unterstützen und zu begleiten, “agil” zu werden. In dem Moment, in dem ich dem Team aber abspreche, dass es reif dafür ist, nehme ich ihm die Eigenverantwortung, die wir gerade anstreben. Die meisten Menschen in dieser Rolle werden mir sicher zustimmen, dass wir es mit mündigen Menschen zu tun haben (das Thema Menschenbild lässt grüßen). Wenn ich aber einem Team die Reife abspreche, “agil” zu sein und selbst zu erkennen, dass es Entwicklungsbedarf hat, weil ich es für “unreif” erkläre, dann spreche ich streng genommen ab, es mit mündigen Menschen zu tun zu haben. Das passt für mich nicht zusammen. Mit welcher Rechtfertigung stelle ich mich als Scrum Master/Agile Coach hin, propagiere das Menschenbild des mündigen Mitmenschen und bestreite, dass in einem bestimmten Kontext diese Mitmenschen mündig sind?
Der zweite Punkt, der mir nach längerem Nachdenken durch den Kopf ging, wenn ein Team, das ich begleiten und unterstützen soll, das Ziel nicht erreicht, kann ich dann überhaupt ausschließen, dass ich als Scrum Master/Agile Coach nicht selbst die Ursache bin? Gerade der Scrum Master ist als Rolle Teil des Scrum Teams. Wer die Rolle ausübt, ist Teil des Teams, dem er abspricht, ein echtes – sich selbst steuerndes – Team zu sein. Im Klartext: Wenn ich einem Team die Reife abspreche, hinterfrage ich nicht einmal meine eigene Wirksamkeit. Wo bleibt hier die oft postulierte Fähigkeit zur Selbstreflexion, die wir als Scrum Master/Agile Coaches haben sollten?
Man merkt, da steckt mehr dahinter. Für mich persönlich stellen sich hier verschiedene Fragen. Nämlich mit welcher Begründung, die wir auch dem Auftraggeber und dem Team gegenüber transparent machen, können wir es uns leisten, eine Bewertung der “Teamreife” vorzunehmen? Keine Frage, es ist wichtig zu wissen, wo wir stehen, um einschätzen zu können, uns zu verbessern und weiterzuentwickeln. Aber wir dürfen dabei nicht den mündigen Menschen ihre Mündigkeit absprechen, indem wir ihnen die Fähigkeit absprechen, Verantwortung zu übernehmen. Wir als Scrum Master/Agile Coaches können unsere Beobachtungen weitergeben und Hinweise geben, dürfen aber keinesfalls in die Falle tappen, unsere Gegenüber aus ihrer Eigenverantwortung zu entlassen, denn unser Job ist es ja gerade, die Übernahme von Eigenverantwortung zu stärken. Was wir aber tun würden, wenn wir es ihnen zutrauen würden. Es ist also auch an uns, klar und transparent zu begründen, warum wir glauben, dass es Verbesserungsbedarf gibt und was mögliche Stellschrauben sein könnten, die wir gemeinsam mit den Beteiligten in Verbesserungsmaßnahmen umsetzen. Das ist für mich die Frage nach dem “Weshalb” und dem “Wie”.
Eine weitere Frage, die sich mir dann stellt, ist: Wie sehe ich meine Rolle als Scrum Master/Agile Coach? Wenn ich mich als Servant Leader verstehe, was nach meinem Verständnis ein Scrum Master/Agile Coach ist, dann muss ich in einer Situation, in der ich feststelle, dass ein Team noch nicht das hochperformante Team ist, das wir uns wünschen, auch die selbstkritische Frage nach meiner eigenen Wirksamkeit stellen. Was kann ich tun und beitragen, damit ein Team die nächste Entwicklungsstufe erreicht? Wo bin ich vielleicht der Bremser? Das heißt, in dem Moment, wo ich mich hinstelle und ein Team für noch nicht reif genug erkläre, fehlt mir die Frage nach der eigenen Wirksamkeit. Denn es ist ja gerade mein Job, in meiner Rolle als Scrum Master/Agile Coach genau diese Wirkung zu erzielen, ein Team zu befähigen, agil zu werden.
Dies beantwortet zwar nicht die Ausgangsfrage von Ralf Kurse, warum immer wieder Scrum Master/Agile Coaches ein Team für unreif erklären. Für mich ist aber klar geworden, dass sich hinter der Aussage “das Team ist nicht reif genug, um agil zu sein” ein Widerspruch verbirgt, der sich mit dem Selbstverständnis eines Agilisten nur schwer vereinbaren lässt: dem Streben nach Verbesserung (Kaizen) gemeinsam mit mündigen Mitmenschen.