Was ich meine, wenn ich von der Vernunft spreche oder von Rationalismus, ist weiter nichts als die Überzeugung, dass wir durch die Kritik unserer Fehler und Irrtümer lernen können und insbesondere durch die Kritik anderer und schließlich auch durch Selbstkritik. Ein Rationalist ist einfach ein Mensch, dem mehr daran gelegen ist zu lernen, als recht zu behalten; der bereit ist, von anderen zu lernen, nicht etwa dadurch, dass er die fremde Meinung einfach annimmt, sondern dadurch, dass er gerne seine Ideen kritisieren lässt und gerne die Ideen anderer kritisiert. (…) Der echte Rationalist glaubt also nicht, dass er selbst oder sonst jemand im Besitze der Weisheit ist. Auch glaubt er nicht, dass die bloße Kritik als solche uns schon zu neuen Ideen verhilft. Aber er glaubt, dass nur die kritische Diskussion uns dazu helfen kann, im Gebiete der Ideen den Hafer von der Spreu zu sondern.
Karl R. Popper (2005):160
aus Alles Leben ist Problemlösen, München 2005
Nicht erst seit gestern mache ich eine Beobachtung, die mich persönlich jedes Mal ratlos zurücklässt und mich gestern zu einem Tweet veranlasst hat:
Arsch in der Hose ist eine Eigenschaft, die war schon früher selten, aber gefühlt ist sie zwischenzeitlich eine Rarität. Alles schön weich einpacken, ja keine Kante zeigen und um Gotteswillen ja nicht anecken – es könnte ja strategisch von Nachteil sein. #SoGehtEsNichtVorwärts
— Thomas Michl 🇪🇺 (@Thomas_Michl) 13. November 2018
Ich höre schon den virtuellen Stoßseufzer der mir zugewandten Menschen, die in Sorge sind, dass ich mich damit mal wieder in vollen Nessel gesetzt habe. Nur, ich kann nicht anders. Wenn wir wollen, dass sich etwas ändert, dann müssen wir das Kind bei Namen nennen. Und es muss sich etwas ändern, denn wir weiterhin mehr und mehr zu „Weichspülern“ mutieren und die „Bullterrier“ dafür bestrafen, dass sie die unangenehmen Dinge aussprechen, dann werden wir eines Tages ein böses Erwachen erleben.
Ich hatte bereits letzte Woche kundgetan, warum ich der Meinung bin, dass wir kritisch-konstruktive Geister in unseren Organisationen brauchen. Heute setze ich noch eine Schippe drauf. Nicht weil ich nörgeln will, sondern weil mir das permanent „Weichspülen“ aus taktisch-strategischen Gründen zutiefst zuwider ist. Zuwider, weil ich es weder fair noch hilfreich halte. Ja, behaupte, dass es langfristig schadet. Es verhindert, dass sich Vertrauen bildet. Es zerstört vorhandenes Vertrauen. Und es führt zur Systemerstarrung. Wir nehmen Menschen, Organisationen die Chance sich zu entwickeln.
Wer konstruktiv-kritisch, offen und ehrlich sagt (die Betonung liegt auf konstruktiv), was er wirklich denkt, eckt an. Das ist richtig. Aber solche Menschen beweisen Mut und ich behaupte sogar Respekt. Respekt, in dem sie ihr gegenüber ernst nehmen. Respekt ihn dem sie ihrem gegenüber fair die Möglichkeit geben seine Argumente zu prüfen. Gefühlt ist es genau dies, was uns heute mehr den je zu fehlen scheint.
Und nein, ich meine nicht die Trolle und Hass erfüllten Online-Kommentatoren, die allenthalben aus dem Boden schießen, wenn es darum geht Menschen zu erniedrigen. Auch diese eine erschreckende Entwicklung. Ich meine konstruktiv-kritische Auseinandersetzungen. Den Mut Dinge anzusprechen, die mensch als störend empfindet. Sachlich argumentiert, ohne unter die Gürtellinie zu gehen. Und genau dies vermisse ich zunehmend und immer häufiger.
Sicherlich war es schon immer schwierig, ein kritischer Geist zu sein, der auch die unangenehmen Dinge ausspricht. Aber immer öfter habe ich das Gefühl, dass es gerade die so dringend benötigen kritischen Geister, die es in einer komplexen Welt mehr denn je braucht, zunehmend schwerer haben, ihren kritisch-rationalen Geist auszuleben. Wer es wagt, kritisch zu denken, der wir beruflich und gesellschaftlich ausgegrenzt und sanktioniert. Wer hofft, eine kritisch-konstruktive Antwort zu bekommen, wird mit weichgespülten, nichtssagenden Aussagen abgespeist. Nur nichts sagen, was vielleicht falsch verstanden werden könnte, statt in den kritischen Dialog einzutreten. Ein gefühlter Trend, den ich nicht gut heißen kann und will.
Gerade in Zeiten in denen „Agilität“ das Schlagwort zu sein scheint, dass sich alle und jeder (leider undifferenziert) auf die Fahne schreiben, sollte mensch erwarten, dass auch der entsprechende kritisch-konstruktive Geist verbreitet, der die agile Haltung ausmacht. Doch erscheint es mir, als würde genau das Gegenteil passieren.
Mein Aufruf: Hört auf alles Weichspülen zu müssen. Wagt mehr Arsch in der Hose, zeigt konstruktiv Kante und lebt echte Agilität.