In den letzten Tagen habe ich mir – angeregt durch ein Gespräch und einige Beobachtungen – ein wenig Gedanken über Diskussionskultur und meine persönlichen Wertvorstellungen in diesem Zusammenhang gemacht.
Ich gehe davon aus, dass wir in einer komplexen Welt leben. Dass es den vollkommen rationalen Menschen nicht geben kann und wir in unserer begrenzten Rationalität nur ein eingeschränktes Wissen haben [wenn es auch noch wissenschaftliche Disziplinen geben soll, die diese Erkenntnis nach wie vor in ihren Theorien nicht berücksichtigen]. Und allein schon deshalb, lediglich über eine selektive Wahrnehmung verfügen. Wir sind in der Lage nur Teilaspekte der komplexe Wirklichkeit zu erfassen.
Wenn man in einer Diskussion – gleich welcher Art (politisch, beruflich, wissenschaftlich …) – diese Erkenntnis zugrunde legt, kann man im Einzelfall nicht ausschließen, dass das Gegenüber mit seiner Sicht der Dinge richtig liegt. Auch dann, wenn man selbst anderer Ansicht ist. Im Gegenteil, man muss davon ausgehen, dass derjenige mit dem man diskutiert, einen weiteren Teilaspekt erfasst haben könnte, der einem selbst verborgen geblieben ist. Selbst bei völlig konträren Meinungen lässt sich nicht ausschließen, dass jede dieser Meinungen aus der jeweiligen Sicht des Argumentierenden richtig ist und möglicherweise einen Teilaspekt beleuchtet. Unter diesem Gesichtspunkt kann durch den Austausch von Argumenten, die eigene Sicht der Dinge um weitere Aspekte ergänzt werden und somit eine neue Erkenntnis gebildet werden.
Nicht minder wichtig: unser “Wissen” ist nicht unbegrenzt gültig. Niemand kann sagen, dass eine Beweisführung die wir anführen und aufgrund des aktuellen Kenntnisstandes Gültigkeit besitzt, auch in der fernen Zukunft Gültigkeit besitzen wird. Wissen verändert sich ebenso rasant, wie unsere Umwelt.
Wenn ich wirklich Interesse daran habe, eine Sache weiterzuentwickeln oder voranzubringen, heißt es mein Gegenüber – auch wenn ich möglicherweise entgegengesetzter Meinung bin – als gleichwertigen Partner zu akzeptieren und seine Argumentation zunächst als gleichrangig aufzunehmen.
Wir sollten uns öfter vergegenwärtigen, dass wir nicht allwissend sind. Das wir nur über ein begrenztes, bescheidenes Wissen verfügen. Und den kritischen Dialog mit Mitarbeitern, Kollegen, Freunden, Nachbarn oder wenn auch immer als Chance begreifen, unser Wissen oder unseren Horizont zu erweitern. Wir sollten uns öffnen gegenüber den Ideen, Argumenten anderer – selbst dann, wenn wir konträrer Meinung sind. Wir sollten einen Dissens als solchen akzeptieren und uns damit bescheiden, dass wir möglicherweise auch irren könnten.
Der einzige richtige Schluss aus meiner Sicht ist daher, dass wir einen respektablen Umgang miteinander pflegen. Wenn wir in einer Diskussion argumentieren oder z. B. im Internet kommentieren, gilt es fair und sachlich zu bleiben. Sein Gegenüber auf Augenhöhe zu sehen. Zu akzeptieren, dass es auch eine andere Sicht auf die Dinge geben kann, die – auch wenn sie von der unseren abweicht – nicht unbedingt falsch ist, solange sie sachlich-kritisch untermauert wird. Es geht schließlich nicht darum, seine Meinung aufzuzwingen, sondern das eigene Bild oder Wahrnehmung gegenzuspiegeln, zu prüfen und vielleicht sogar zu erweitern. Genau darum schätze ich kritisch-konstruktive Diskussionen.
Hallo Thomas,
ein sehr interessantes Thema das du hier behandelst.
Projiziert man dein Plädoyer für eine offenere Diskussionskultur auf das Web, vermisse auch ich recht häufig das gewisse Quäntchen an Offenheit, bzw. die Toleranz — und Aufmerksamkeit — für die Argumente der Gegenseite.
Viel zu selten wird versucht, den Standpunkt des Diskussionspartners zu verstehen. Die Parteien wirken oft festgefahren, scheinen kaum bereit ihre Position zu verlassen und lassen die Argumente der Gegenseite unkommentiert vorbeiziehen. Frustration macht sich breit, da die Konversation auf der Stelle tritt. Im schlimmsten Falle vergeht die Lust an der Diskussion im Allgemeinen — der SuperGAU schlechthin.
Soviel zu meiner Erfahrung mit diesem Sachverhalt.
Viele Grüße und weiter so
Philipp
PS:
Weshalb verlinkst du dieses Blog denn nicht auf deinem Twitter-Profil? Ich hatte die URL zufällig in Facebook aufgeschnappt. 😉
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Hallo Philipp,
stimmt. Aber genau deshalb eben dieses Plädoyer.
Besser bringt es aber jemand anderes auf den Punkt: „Ein Rationalist ist einfach ein Mensch, dem mehr daran gelegen ist zu lernen, als recht zu behalten; der bereit ist, von anderen zu lernen, nicht etwa dadurch, dass er die fremde Meinung einfach annimmt, sondern dadurch, dass er gerne seine Ideen kritisieren lässt und gerne die Ideen anderer kritisiert. Der Nachdruck liegt hier auf der Idee der Kritik oder genauer gesagt der kritischen Diskussion. Der echte Rationalist glaubt also nicht, dass er selbst oder sonst jemand im Besitze der Weisheit ist. Auch glaubt er nicht, dass die bloße Kritik als solche uns schon zu neuen Ideen verhilft. Aber er glaubt, dass nur die kritische Diskussion uns dazu helfen kann, im Gebiete der Ideen den Hafer von der Spreu zu sondern. Er weiß wohl, dass die Annahmen oder Verwerfung einer Idee niemals eine reine rationale Angelegenheit ist; aber er glaubt, dass nur die kritische Diskussion uns die Reife geben kann, die nötig ist, um eine Idee von mehr und mehr Seiten zu sehen und sie gerecht zu beurteilen.“ aus Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen, München 2005, S. 160
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Das hat mich sehr angesprochen. Es ist ein fast alltägliches Thema. Manches könnte sehr viel leichter und „menschen“würdiger ablaufen.
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